Nach fast zehn Jahren und vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse, dachte ich mir, es sei an der Zeit, den „Roman“ und „Platz 1 Spiegel Bestseller“, „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq, durchzugehen.
Das Taschenbuch ist recht dick, bestimmt drei cm. Es sind 271 Seiten. Grundlage für das folgende ist die siebte Auflage aus dem Jahr 2017. Das Buch habe ich auf Deutsch gelesen.
Vor dem Block „I“ steht links oben, daß der „dem Text vorangestellte Auszug aus ‚Unterwegs‘ wurde zitiert nach Joris-Karl Huysmans: ‚Unterwegs‘. Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn. Belleville, Nünchen 2015.“
Dieser Text selbst, eine gute halbe kursiv gedruckte Seite, handelt von den Gedanken eines Protagonisten in einer Kirche und endet mit „Im Grunde […] ist mein Herz durch das lockere Leben verhärtet und vertrocknet, ich bin zu nichts nutze.“.
Die einzelnen kleinen Abschnitte haben keine Numerierung, ich habe diese selbst hinzugefügt.
Auf Seite „8“ geht es los, es werden damit alle, wirklich alle Seiten gezählt.
Der Protagonist schreibt in der „Ich“-Form. Auf den ersten Seiten wird geschildert, wie er sieben Jahre an einer Dissertation in Literaturwissenschaft über „Joris-Karl Huysmans“ arbeitete (Universität Paris IV), zum Hochschuldozenten und schließlich zum „Professor“ berufen wurde (Univ. Paris III).
Der Stil ist mehr als flapsig. Es werden viele Namen von französischen Schriftstellern benannt.
Es sind Lebensweisheiten eingewebt wie:
- „[…] begriff ich, dass ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen war und dass es vermutlich der beste gewesen war.“ [S. 8, nach seiner Disputation]
- […] sich zu beweisen, sich einen beneidenswerten Platz in einer Gesellschaft des – wie sie denken und hoffen – Wettbewerbs zu erkämpfen, elektrisiert von der Anbetung austauschbarer Ikonen: Sportler, Modedesigner, Internetkreative, Schauspieler, Models.“ [S. 8, die Mehrheit nach der Beendigung des Studiums]
Hier ist bereits ein sehr starker Aspekt der Gesellschaftsanalyse zu spüren.
Der Protagonist erkennt, daß seine Jugend mit dem Abschluß seiner Dissertationsschrift „vorbei“ [S. 12] ist, daß er arm war und billigst essen mußte, und stellt Thesen auf, daß alleine die Literatur es ermögliche, „mit dem Geist eines Toten in Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise, als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre“ (S. 10) – und weiteren ähnlich seltsamen und leicht kruden philosophischen und Lebensweisheiten.
Im folgenden Abschnitt 2 wird zutreffend festgestellt, daß die Literaturwissenschaft sich im Grunde selbst erhält, „über 95 Prozent Ausschuss nimmt man in Kauf“ (S. 13). Also ein Studium, das einen im späteren Berufsleben zwangsläufig auf inhaltlich andere Berufe führen würde. Seine Doktorarbeit wurde aber mit „summa cum laude“ bewertet und damit hat er eben die Chance auf eine universitäre Karriere. Es wird klar, daß er im Rückblick schreibt, „Ich hatte nie die geringste Begabung für die Lehre gehabt, und fünfzehn Jahre später hatte meine Karriere die anfängliche Abwesenheit der Begabung nur bestätigt.“ (S. 14).
Er schildert, daß er jährlich eine „Freundin“ gehabt hätte, die sich aus den Kommilitoninnen rekrutierten. Zum Ende der Sommerferien wurden diese Beziehungen „auf Initiative der Mädchen“ (S. 15) beendet. Zehn bis 20 dieser Beziehungen seien ein vernünftiger Durchschnitt, dann folge die Monogamie einer Ehe (S. 16). Viele weibliche Namen werden bemüht (Aurélie, Sandra, Chloé, Violaine, Myriam), Erstsemesterinnen als „neue Ware“ bezeichnet (S. 19) und der unterschiedliche Alterungsprozeß der Geschlechter im Bereich der Attraktivität so geschildert: „bevor die substanzielle Erschlaffung ihrer Haut der Beginn einer endgültigen Einsamkeit wäre“ (S. 18) und schon vorher am Beispiel einer Gespielin: „ihr Körper hatte irreparable Schäden erlitten, der Hintern und die Brüste waren nur mehr dünne, schrumpelige, schlaff herabhängende Hautlappen, sie war am Ende, würde nie wieder ein Objekt der Begierde sein“ (Aurélie, S. 17).
Der stark auf „Looks“ und Körper ausgerichtete Protagonist ist sozusagen selbst „am Ende“, was Beziehungsfähigkeit, Empathie und Verantwortungsgefühl betrifft. Nachdem er Dozent war, „schlief ich weiter mit Studentinnen meiner Fakultät“ (S. 18). Er beschreibt auch, daß er sich „niemandem“ über sein Liebesleben „mitteilen“, denn „Männer sprechen von Politik, Literatur, Finanzmärkten oder Sport, wie es eben ihrer Natur entspricht“, „bis zum letzten Atemzug“ kein Wort über ihr Liebesleben.
Das ist treffend beobachtet und klar geschildert. Er beschreibt weiter, wie er auf Internet-Seiten sich Videos ansieht, die zwischen „wunderbar“ (L.A.) und „teil erbärmlich produziert“ („deutsche Amateure“, S. 21) schwanken.
Manche Übersetzungen oder Wortschöpfungen wirken seltsam („Brathähnchen“, S. 21; „Esseintes“, S. 32).
Der Leser fragt sich langsam, wo denn die eigentliche Thematik behandelt werden würde. In einer Schilderung seiner Lehrtätigkeit – er hat seine drei Veranstaltungen auf den Mittwoch gelegt – beschreibt er „Chinesinnen“, die in seiner Vorlesung über die Literatur des 19. Jahrhunderts für Studenten im zweiten Studienjahr keine Fragen stellten, sich Notizen machten und „die zwei Stunden vergingen, ohne dass ich das Gefühl hatte, wirklich begonnen zu haben“ (was soll das eigentlich heißen, fragt man sich, S. 22).
Sein Kollege Steve hat „verschleierte Nordafrikanerinnen“ in seinem Auditorium (ebd.) – hier taucht das Sujet somit das erste Mal auf. Es gibt das Gerücht, daß dieser der Präsidentin der Universität III „die Muschi leckte“ (S. 23) und so seine Universitätskarriere beginnen konnte.
Auf Seite 27 wird geschildert, wie „zwei Araber und ein Schwarzer“ die Türe seines Vorlesungsraums versperrten. Aber sie wollten ihre „Schwestern“ besuchen, die Vermutung des Protagonisten ist, daß es sich dabei um die beiden „nordafrikanischen Mädchen“ handelte, die „schwarze Burkas“ trugen, „ihre Augen waren von einem Gitter geschützt“.
Sie ließen ihn passieren und gingen weg mit „Friede sei mit ihnen“, aber der Protagonist wurde mit seinen Gedanken wiedergegeben, „es kursierten Gerüchte von Angriffen auf Dozenten in Mühlhausen, Straßburg“, aber er „glaubte im Grunde nicht wirklich daran.“ (S. 28).
Abschnitt vier führt dann die Politik ein („Front National“, S. 30), sehr schöne Bemerkungen über das Wort „Kräfteverhältnisse“ und die imponierende Wirkung dieses Worts „in jeder Unterhaltung“ (ebd.), „als hätte ich Clausewitz und Sunzi“ gelesen (auf Deutsch eigentlich „Sun Tzu“ oder „Sun Tsu“, aber gut, vielleicht ändert sich das gerade).
Dann wird seine letzte Affäre Myriam in ihren Vorzügen geschildert, „ihre Möse“, jede „Fellatio von ihr hätte genügt, das Leben eines Mannes zu rechtfertigen“ – man fragt sich als Leser wieder, wo ist man da eigentlich hineingeraten (S. 33).
Der Satz „Die Liebe eines Mannes ist nichts anderes als die Anerkennung für das ihm bereitete Vergnügen“ (S. 33) kommt etwas unvermittelt.
Auf Seite 32 hätten die Übersetzer eine Fußnote anbringen können, denn nicht jedem dürfte geläufig sein, daß „Des Esseintes“ die Hauptfigur in Roman „À rebours“ (dt. „Gegen den Strich“) ist.
Abschnitt fünf (S. 34) schildert die Hauptfigur als „Macho“ (Bemerkung Myriams, S. 34) und es wird langsam politisch, der Autor läßt seine Hauptfigur in wörtlicher Rede sagen: „Ich hielt es eigentlich nie für eine gute Idee, Frauen das Wahlrecht zu geben, sie zu den gleichen Studienbedingungen und Berufen zuzulassen und so weiter.“ Es entspinnt sich eine Diskussion zum Patriarchat und die Hauptfigur führt aus „das Patriarchat hatte zumindest den Vorzug zu existieren, also ich meine als Sozialsystem, es hatte Bestand, es gab Familien mit Kindern, die im Großen und Ganzen nach demselben Muster lebten, kurz, es funktionierte; jetzt gibt es nicht mehr genug Kinder, da hat es sich erledigt.“ (S. 34f.)
Das ist in meinen Augen eine Schlüsselstelle des „Romans“. Denn hier wird die Grenze zur Soziologie überschritten und eine zentrale Erkenntnis der aktuellen Demographieforschung angesprochen: Die niedrigen Geburtenziffern in Frankreich (was ja noch um einiges besser dasteht als Deutschland, wer sich einmal länger mit der Thematik beschäftigt hat). Dies ist ja auch in meinen Augen eines der absolut zentralen Probleme Deutschlands zur Zeit – und ich kann nicht erkennen, wie die aktuellen Personen in Führungspositionen (wirtschaftlich, politisch und sozial) dieses Problem erkannt geschweige denn adäquat angegangen haben.
Es folgt „Namedropping“: Mallarmé, Nick Drake, ZZ Top, Boris Cyrulnik, Konrad Lorenz. (vgl. auch S. 46, S. 52)
Und Myriam hatte „die Schenkel leicht gespreizt“ (S. 35), erfährt man, man fragt sich, was diese ständigen Sex-Szenen eigentlich sollen. Auch auf Seite 37, „Ich hätte sie bitten sollen, mir einen zu …“.
Und wieder eine allgemeine Beobachtung: „Während die französische Wirtschaft in großen Teilen zusammenbrach, ging es dem Verlagswesen gut, es verzeichnete wachsende Gewinne, es war wirklich erstaunlich, man könnte glauben, Lesen sei das Letzte, was den Menschen in ihrer Hoffnungslosigkeit blieb.“ (S. 36).
Dann kommt der Block II (S. 39). Auch hier sind die Abschnitte nicht numeriert.
Myriam ging, er war betrübt und „nicht einmal imstande, meine Mittwochskurse zu leiten“ (S. 40). Er überlegt, wie ein Autor nach einem guten Buch weiter fortfahren soll, ein „enttäuschendes Buch“ (S. 41) müsse folgen, er selbst habe nach seiner Dissertation und seinem Buch vor zehn Jahren nur noch kurze Beiträge veröffentlicht.
Er übertreibt mit „Während ich auf den Tod wartete“ und sinnierte, Myriam war wohl der Höhepunkt seines Liebeslebens gewesen (S. 42). Viele Männer interessierten sich für Politik und Krieg, aber er sei „politisiert wie ein Handtuch“ (S. 43 – eine schöne Metapher).
Es folgt eine kurze – in meinen Augen – zutreffende Charakterisierung des westlichen Systems, „zwei rivalisierenden Gangs“, „nicht selten kam es sogar zu einem Krieg, um dieses System anderen Ländern aufzuzwingen“.
Dann merkt man: Der Roman spielt in der Zukunft. Er ist ja 2015 erschienen, aber es steht auf Seite 43: „erst 2017 kam mit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen wirklich Bewegung in die Sache“, danach „verkündete Mohammed Ben Abbes die Gründung der Bruderschaft der Muslime“ (S. 44).
Und unvermeidlich: „Hitler“ (S.48). Spätestens hier fällt auf, daß Deutschland wie auch generell andere Länder keine Rolle spielen.
Abschnitt 2 dann (S. 50) erlebt die erste Zuspitzung: Alice wird eingeführt, Hochschullehrerin von Lyon III. Und auf Seite 51 erfährt man den Namen des Protagonisten: „Francois“.
Wieder etwas verwirrend: „Alice sah uns mit diesem zugleich zärtlichen und leicht spöttischen Blick an, den Frauen aufsetzen, wenn sie einer Unterhaltung zwischen Männern folgen, diesem merkwürdigen Vorgang, der stets zwischen Homoerotik und Duell schwankt“. (S. 51)
Sie hörten dann ein „Grollen“, dann „Salven“ (S. 53), und hier fragt sich der Leser: Die Figuren reagieren aber ungewöhnlich. Die Unterhaltung läuft irgendwie weiter, es herrscht kein Entsetzen vor, das Geschehen kann so nicht realistisch geschildert worden sein.
Abschnitt 3 (S. 57) setzt sich mit der Medienberichterstattung auseinander.