Im „Münchner Filmmuseum“ kam der Film „Urchin“.
Vor dem Film gab es eine kleine Einführung von Werner Herzog. Auch der Regisseur wurde kurz nach vorne gebeten.
Der Film selbst beginnt mit einer starken „Jesus“-Szene einer Frau und Mike, dem Protagonisten, der ganz offenbar am Rand einer Straße geschlafen hat und aufsteht. Von seiner Kleidung wird klar: Das ist kein „Ausrutscher“ gewesen. Man sieht dann auch, wie er seinen Rucksack, den er hinter einer Mülltonne versteckt hatte, holt.
Sein Umgang mit den anderen Menschen ist auch nicht von ausdrücklicher Höflichkeit geprägt.
Er hält sich, das wird in den weiteren Szenen deutlich, im Obdachlosenmilieu auf.
Die Szenen und Schnitte sind schnell, die Kamera hat aber Zeit.
Der Ton fügt sich sehr gut ein, strukturiert auch teilweise die Handlung. Es wird viel über Musik gearbeitet – und deren Texte. Besonders „Whole Again“ von Atomic Kitten ist in einer Schlüsselszene zu sehen, wo Mike mit seinen beiden Arbeitskolleginnen bei einer Karaoke-Nacht reine Freude zu haben scheint (wobei hier etwas unplausibel war, wie man als Küchenhilfe sich ein Auto leisten kann und dann auch noch „burning rubber“ durchführen kann, aber gut, eine der wenigen wirklichen Unplausibilitäten des Films).
Letztlich mündet das aber nicht in etwas „stabiles“, sondern er läßt sich treiben oder wird getrieben von seiner Sucht.
Zeitweilig ist nicht klar, ob dies ein Film ist, der Suchtmittel verherrlicht, z.B. zur Entfesselung von Kreativität. Mit der Zeit, als der Protagonist dann eine Arbeitskollegin in seinem nächsten Job übel beschimpft und im Innersten trifft, als er ihre Träume lächerlich macht und sie charakterlich entwertet, wird klar, daß dieser Film ein äußerst drogenkritischer Appell ist.
Die stärkste Szene, auch mit einmal darüber schlafen, war für mich die „naughty kid“-Szene. Nachdem Mike acht Monate im Gefängnis sitzen mußte, wurde er zur Vorbereitung eines Täter-Opfer-Gesprächs mit einem Psychologen für die Vorbereitung zusammengebracht. Der Psychologe spricht erst mit einer Verwaltungskraft in einem „normalen“ Ton und dann mit einem „besonderen Ton“ wendet er sich an Mike. Der läßt sich das nicht gefallen, möchte auf Augenhöhe behandelt werden. Als Zuschauer denkt man sich „das fiel mir aber im Grunde gar nicht auf“, aber gut, es ist unfaßbar gut gespielt von dem Psychologen – und mit kleinen Abstrichen auch von Mike. Die Kamera läßt sich Zeit. Es knistert, man spürt die Spannung. Der Psychologe gibt nach und entschuldigt sich.
Die schwächste Szene in meinen Augen ist am Schluß, in einem größeren Kiosk, es geht ihm das Geld aus, er braucht Alkohol, der Besitzer verweigert es ihm. Es treten in schneller Folge mehrere Figuren auf und es ist unklar, was das jetzt eigentlich alles soll, Mike hält einen etwas weinerlichen Monolog.
Zwischenzeitlich erfährt man aus seiner Vergangenheit, er wurde „adopted“, aber es tauchen wenig Figuren aus seiner Vergangenheit auf, einmal nur ein kurzes Telefongespräch wohl mit seiner Adoptivmutter. Es gibt keine starke männliche Rolle. Auch keine starke weibliche Rolle. Eigentlich gar keine „starken“ Rollen. Es ist ein ständiges Treiben, eine Achterbahn – aber beständig nach unten.
In der Diskussion vor und nach dem Film sprach Werner Herzog die „Gefängnis-Szene“ an, wie oder gerade wie nicht die acht Monate visualisiert wurden. Er steht unter der Dusche, die Kamera folgt dem Wasserstrahl in den Abfluß und in einer Art „“ (mir fällt der Name des Computerspiels nicht ein, aus C64-Zeiten, man mußte durch ständig neue Löcher und Formen fliegen die sich auftaten und dabei wilde Kurven schaffen), fast wie in einem waagerechten „Alice im Wunderland“-Flug, landet er schließlich in einer Höhle und von oben fällt durch eine Öffnung Licht herab.
Die Szene ist stark, keine Frage, auch die Schlußszene, die ich hier nicht als Spoiler verraten möchte.
Zusammengefaßt: Ein durchaus sehenswerter Film.
Der Regisseur selbst schlägt sich in der Diskussion mit Werner Herzog tapfer, einmal taucht er richtig auf, als es um die Musik geht („es war von Anfang an klar, daß ‚Whole Again‘ enthalten sein muß“) und als er erklärt, er hatte zu viele Schauspieler, die kleine Rollen spielen sollten und ihre Ideen einbringen wollten („mit einem Akzent sprechen“) und er es ihnen ausreden mußte. Oder als es um ein „alternatives Ende“ ging, das er eigentlich nicht wollte. Aber wer weiß, vielleicht gibt es einen „Director’s Cut“. Man hat das Gefühl, daß zum Schluß hin etwas „gehudelt“ wurde.